Informationsschreiben über POA – Present on Admission
An vielen Orten wird in Zusammenhang mit der medizinischen Kodierung und Qualität POA heiss diskutiert. Hier finden Sie die wichtigsten Informationen zu diesem Thema:
Die Strategie zur Qualitätsentwicklung des Bundes (KVG) beinhaltet eine systematische und strukturierte Verbesserung der Qualität der Leistungen inkl. Patientensicherheit.
Aktuell können Komplikationen in den kodierten Daten teils nur ungenau aus dem BfS Datensatz herausgelesen werden, und es gibt keine Informationen dazu, ob Diagnosen bei Eintritt in das Spital bereits bestanden oder im Laufe des stationären Aufenthaltes erworben wurden. Hier setzt das Konzept der Bezeichnung „present on admission“ oder abgekürzt „POA“ an. Dieser Begriff wird im Gesundheitswesen für die Dokumentation und Abrechnung von Diagnosen verwendet. Er bezieht sich darauf, ob eine Diagnose oder ein Zustand bereits bei der Aufnahme des Patienten ins Spital vorhanden war oder erst während des Spitalaufenthaltes entstanden ist. POA wird international an manchen Orten als Indikator für die Risikobewertung und Qualitätskontrolle verwendet, um so die medizinische Nachvollziehbarkeit zu steigern und spital-Assoziierten Komplikationen besser abzugrenzen (siehe Pro - Argumente weiter unten).
Diagnosen mit POA – Zusatz
Die Diagnosen sind aus einer Liste von PPCs – Potentially Preventable Complications – herausgezogen worden. PPCs werden definiert als nachteilige und dennoch vermeidbare Zustände oder Ereignisse, die nach dem Eintritt eines Patienten auftreten. Sie resultieren aus Prozessen der Pflege und Behandlung statt der natürlichen Progression der zugrundeliegenden Krankheit. Nicht alle Komplikationen sind PPCs, sie müssen – mit wenigen Ausnahmen – nach dem Eintritt auftreten und vermeidbar sein. Die Vermeidbarkeit wird mit dem POA-Zusatz jedoch nicht berücksichtigt.
Beispiele für POA Diagnosen sind (komplette Liste inkl. ICD-Code im Anhang):
- Delir
- Bestimmte akute Komplikationen nach akutem Myokardinfarkt
- Lungenembolie
- Hirninfarkte
- Pneumonien
- Komplikationen einer Herzkrankheit und ungenau beschriebene Herzkrankheit
Wie unschwer aus den Diagnosecodes zu entnehmen ist, kann nicht unterschieden werden, ob diese vermeidbar gewesen wären oder eine Folge der primären Erkrankung oder der Polymorbidität und Vulnerabilität.
Pro - Argumente
Für viele Kantone ist nun klar, dass für eine bessere Qualitätsdatenerhebung und zur leichteren Erkennung von Komplikationen ein Zusatzmerkmal „POA“ bei bestimmten Diagnosen eingeführt werden soll – oder bereits wurde.
Als positive Effekte wurden von den Kantonen folgende Argumente aufgelistet[1]:
- Die Zusatzinformation "POA" bei den definierten Diagnosen ermöglicht den Aufbau von Qualitätsindikatoren (Komplikationsraten, Patientensicherheit-Indikatoren etc.) anhand der vorhandenen Routinedaten. Damit werden bestehende Daten besser genutzt und können andere (aufwändigere) Messungen und doppelspurige Daten-erfassungen (Bsp.: Erfassung von Komplikationen in klinischen Registern) reduziert werden.
- Länder, welche eine POA-Codierung pflegen, verfügen in der Regel über eine voll-ständigere Dokumentation von Komorbiditäten (Nebendiagnosen) in den Routine-daten, was die Patientenkomplexität sowie die Behandlungsqualität besser abbildet.
- Potenziell vermeidbare Inhouse-Komplikationen (die Kosten verursachen und dadurch den Gewinn reduzieren) können seitens Spitäler schneller und einfacher evaluiert werden, was die Qualitätsentwicklungen unterstützt.
- Es wird mit dem POA-Zusatz möglich, die Risikoadjustierung von Qualitätsindikatoren zu verbessern. Für eine bessere Risikoadjustierung muss bekannt sein, ob eine Diagnose bereits bei Eintritt vorlag oder während dem Behandlungsprozess aufgetreten ist.
- Die Einführung der POA-Codierung kann helfen die Ergebnisqualität zu verbessern, weil vermeidbare Komplikationen dadurch besser identifizierbar werden. Zudem bewirkt sie eine Verbesserung der Dokumentation, weil die entsprechenden Verläufe systematischer festgehalten werden müssen.
Contra - Argumente
Die Einführung der POA in einigen Kantonen wurde weder auf nationaler Ebene diskutiert noch umfassend von relevanten Qualitätsgremien und fachkundigen Spitälern geprüft. Praxisorientierte Qualitätsgremien der Spitäler sowie weitere nationale Qualitätsverbände wurden nicht eingebunden, um den zusätzlichen Aufwand für die Spitäler im Vorfeld evidenzbasiert zu rechtfertigen. Positive Effekte auf die Qualität werden zwar vermutet, sind jedoch nicht belegt.
- Vorwand für wirtschaftliches Interesse: In anderen Ländern zeigt sich aktuell wohl einzig ein wirtschaftlich gewollter negativer Effekt, dass Diagnosen, welche als Komplikationen deklariert wurden und während des Spitalaufenthaltes sich entwickelten, keinen DRG-Einfluss mehr haben. In der Schweiz zeigt sich anhand aktueller Stellungnahmen von Seiten einiger Kantone aber bisher keinen Willen auf eine finanzielle Möglichkeit zur Bestrafung für die Spitäler mit Unterfinanzierung von komplikationsbehafteten Fällen.
- Ungenau und unzuverlässig: Das Ziel, Qualität zu messen wird nicht erreicht, da Unterschiede zwischen Spitälern durch unterschiedliche Erfassungen bereits erklärt werden. Studien haben gezeigt, dass die Genauigkeit der POA-Erfassung stark variiert. Eine Untersuchung in Kalifornien ergab, dass die Einführung von POA-Indikatoren die Spitalbewertungen erheblich beeinflusste, wobei 25 % der Krankenhäuser eine Rangänderung von ≥10 % erfuhren[2]. Dies deutet darauf hin, dass die POA-Daten möglicherweise nicht zuverlässig genug sind, um genaue Qualitätsbewertungen zu ermöglichen.
- Fehlende Standardisierung: In vielen Ländern, wie beispielsweise Deutschland, wird das POA-Flag nicht routinemäßig erfasst, was die Kalibrierung prädiktiver Modelle des stationären Behandlungsverlaufs erschwert[3]. Auch in der Schweiz wird die Erfassung kantonal geregelt und es gibt keine klaren Erfassungsstandards. Ohne einheitliche Standards kann die Vergleichbarkeit und Qualität der Daten stark beeinträchtigt werden.
- Zusätzlicher Dokumentationsaufwand und Kosten ohne Nutzen: Die Einführung von POA-Indikatoren erhöht den Dokumentationsaufwand für medizinisches Personal. Ohne klaren Nachweis eines signifikanten Nutzens könnte dieser zusätzliche Aufwand als ineffizient betrachtet werden.
- Mögliche Fehlinterpretationen und Fehlanreize: Ohne ausreichende Schulung und klare Richtlinien besteht die Gefahr, dass POA-Indikatoren falsch angewendet werden. Bisher konnte nicht gezeigt werden, wie die Anwendung von POA-Indikatoren zu einer Verbesserung in der effektiven Behandlungsqualität führt. Im Gegenteil, POAs können zu Fehleinschätzungen in der Qualitätsbewertung führen. Viele der aufgeführten Diagnosen sind nicht per se potenziell vermeidbar (beispielsweise Lungenembolien, Hirninfarkte, Frakturen, Unfälle, unerwünschte Nebenwirkungen von Medikamenten)
Umsetzung und Auswirkungen auf die Ärzteschaft
Aktuell gibt es keine nationale Bestimmung zur Erfassung der POAs. In einigen Kantonen wie Zürich und Basel ist jedoch die Erfassung bereits seit Anfang 2024 obligatorisch. In den Kantonen Zug und Thurgau ist die Erfassung seit Anfang 2025 obligatorisch. In vielen anderen Kantonen ist die Erfassung freiwillig, einige Spitäler sind für eine Erfassung technisch vorbereitet, einige nicht.
Die Erfassung der POAs erfolgt in den Spitälern, die die Prozesse bereits angepasst haben, vollständig über die stationäre medizinische Kodierung. In den Codier-Tools öffnet sich bei der Erfassung einer der oben genannten Diagnosen ein zusätzliches Fenster, in der die Kodierung aus folgenden Parametern wählen kann:
1 = Ja, Diagnose war bei Aufnahme vorhanden
2 = Nein, Diagnose war bei Aufnahme nicht vorhanden
3 = klinisch unbestimmt
9 = Unbekannt
Leer = POA nicht notwendig
Die Informationen werden aus den medizinischen Berichten genommen. Wenn keine Angaben zum Datum der Erstdiagnose gefunden werden kann, so wird „9“ gewählt. Für die Ärzteschaft zeigt sich demnach keinen grösseren Mehraufwand. Die medizinische Dokumentation ist weiterhin so genau wie möglich zu halten. Der Mehraufwand liegt grösstenteils bei der medizinischen Kodierung. Auf durchschnittliche 10‘000 Fälle kommen ca. 9200 POA-Diagnosen[4]. Bei eintrainierten Kodierern und guter Dokumentationsqualität kann man bei der Erfassung von 3 Sekunden pro Diagnose ausgehen. Dies entspricht bei 10‘000 stationären Fällen ein zusätzlicher Arbeitsaufwand von ca. 8 Stunden.
Anhang: Liste von POA-Diagnosen
F00-F99 Psychische und Verhaltensstörungen
F05 Delir
G90-G99 Sonstige Krankheiten des Nervensystems
G90 Sonstige Krankheiten des Nervensystems
G97 Krankheiten des Nervensystems nach medizinischen Massnahmen, anderenorts nicht
klassifiziert
I00-I99 Krankheiten des Kreislaufsystems
I23 Bestimmte akute Komplikationen nach akutem Myokardinfarkt
I26 Lungenembolie
I51 Komplikationen einer Herzkrankheit und ungenau beschriebene Herzkrankheit
I63 Hirninfarkt
I72 Sonstiges Aneurysma und sonstige Dissektion
I80 Thrombosen, Phlebitis und Thrombophlebitis
I97 Kreislaufkomplikationen nach medizinischen Maßnahmen, anderenorts nicht
klassifiziert
J00-J99 Krankheiten des Atmungssystems
J12 Viruspneumonie
J13 Pneumonie durch Streptokokken pneumoniae
J14 Pneumonie durch Haemophilus influenzae
J15 Pneumonie durch Bakterien, anderenorts nicht klassifiziert
J16 Pneumonie durch sonstige Infektionserreger, anderenorts nicht klassifiziert
J18 Pneumonie, Erreger nicht näher bezeichnet
J69 Pneumonie durch feste und flüssige Substanzen J90 Pleuraerguss
J93 Pneumothorax
J95 Krankheiten der Atemwege nach medizinischen Massnahmen, anderenorts nicht
klassifiziert
K00-K93 Krankheiten des Verdauungssystems
K91 Krankheiten des Verdauungssystems nach medizinischen Maßnahmen, anderenorts
nicht klassifiziert
K92 Sonstige Krankheiten des Verdauungssystems
L00-L99 Krankheiten der Haut und Unterhaut
L89 Dekubitalgeschwür und Druckzone
N00-N99 Krankheiten des Urogenitalsystems
N10 Akute tubulointerstitielle Nephritis
N17 Akutes Nierenversagen
N30 Zystitis
N39 Sonstige Krankheiten des Harnsystems
N99 Krankheiten des Urogenitalsystems nach medizinischen Maßnahmen, anderenorts nicht
klassifiziert
O00-O99 Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett
O29 Komplikationen bei Anästhesie in der Schwangerschaft
O99 Sonstige Krankheiten der Mutter, die anderenorts klassifizierbar sind, die jedoch
Schwangerschaft, Geburt oder Wochenbett komplizieren
S00-S99 Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äusserer Ursachen
Ganzes Kapitel
T00-T98 Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äusserer Ursachen
T80 Komplikationen nach Infusion, Transfusion oder Injektion zu therapeutischen Zwecken
T81 Komplikationen bei Eingriffen, anderenorts nicht klassifiziert
T82 Komplikationen durch Prothesen, Implantate oder Transplantate im Herzen und in den
Gefäßen
T83 Komplikationen durch Prothesen, Implantate oder Transplantate im Urogenitaltrakt
T84 Komplikationen durch orthopädische Endoprothesen, Implantate oder Transplantate
T85 Komplikationen durch sonstige interne Prothesen, Implantate oder Transplantate
T86 Versagen und Abstoßung von transplantierten Organen und Geweben
T87 Komplikationen, die für Replantation und Amputation bezeichnend sind
T88 Sonstige Komplikationen bei chirurgischen Eingriffen und medizinischer Behandlung,
anderenorts nicht klassifiziert
T89 Sonstige näher bezeichnete Komplikationen eines Traumas
V01!-Y84! Äussere Ursachen von Morbidität und Mortalität
X59 Akzidentelle Exposition gegenüber sonstigen und nicht näher bezeichneten Faktoren
Y57 Unerwünschte Nebenwirkungen bei therapeutischer Anwendung von Arzneimitteln und
Drogen
Y59 Unerwünschte Nebenwirkungen bei therapeutischer Anwendung von Impf-stoffen oder
biologisch aktiven Substanzen
Y69 Zwischenfälle bei chirurgischem Eingriff und medizinischer Behandlung
Y82 Medizintechnische Geräte und Produkte im Zusammenhang mit Zwischenfällen bei
diagnostischer und therapeutischer Anwendung
Y84 Chirurgische und sonstige medizinische Maßnahmen als Ursache einer abnormen
Reaktion eines Patienten oder einer späteren Komplikation, ohne Angabe eines
Zwischenfalls zum Zeitpunkt der Durchführung der Maßnahme
[1] Present on admission – Informationen zur Erfassung
[2] Effect of Present-on-Admission (POA) Reporting Accuracy on Hospital Performance Assessments Using Risk-Adjusted Mortality - PMC
[3] BMG-Gutachten: "Datenspende" – Bedarf für die Forschung, ethische Bewertung, rechtliche, informationstechnologische und organisatorische Rahmenbedingungen (TMF. 2019)
[4] Berechnungen mit SGAIM Datensatz 2023 (rund 750‘000 stationäre Fälle über alle Grössen, 44 Spitäler). Anmerkung: grössere Spitäler weisen wesentlich höhere Anteile an POA-Diagnosen auf – Zentrum- und Unispitäler (K111, K112) können mit einem Faktor 7 von ihren stationären Fällen rechnen.